Die Gleichheit der Blinden

Phantastik hat zwei Bedeutungen: Im engen Sinn bezeichnet der Begriff Werke, in dem etwas übernatürlich erscheint, aber nie aufgelöst wird, ob es dies tatsächlich ist. Im weiten Sinn umfasst die Phantastik hingegen alle Gattungen, in denen unwirkliche, phantastische Dinge, Figuren, Ereignisse vorkommen. Dabei haben diese übernatürlichen oder wundersamen Dinge einen geringeren Anteil an der geschilderten Wirklichkeit als in der Fantasy.
Was macht Phantastik aus? Dies ist ähnlich schwer zu bezeichnen wie das, was Fantasy ausmacht. Phantastik kann lustig sein ebenso wie schaurig. Die breiteste Maßgabe ist: In der Phantastik passieren Dinge, die in der Wirklichkeit nicht passieren können. Peter Pan fliegt. Pu der Bär spricht. Pinocchios Nase wächst. Zeitverschiebungen sind möglich und auch sind andere Wirklichkeiten oder Wahrnehmungsebenen können vorhanden sein. Aber dies sind nicht die ausgestalteten Parallelwelten der High Fantasy. Phantastik ist weniger übernatürlich als Fantasy und stellt letzten Endes doch auf unsere empirische Realität ab.
Phantastik ist ebenfalls eine Sammelbezeichnung für bestimmte Gattungen von Büchern. Sie beinhaltet in der Regel Mystery, Gothic Novel, Schauergeschichte, Horror- und Gespensterroman und meist auch den Magischen Realismus. Seltener werden auch Science-Fiction und Utopie hinzugerechnet, die zwar gleichfalls Nicht-Reales behandeln, dies aber als mögliche Zukunftsvision.
Die Bezeichnung geht dabei zurück auf E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callots Manier (1814). Ihren Ursprung hat sie aber auch in der Sage, im Märchen, in Rittergeschichten und Erzählungen von Räubern. Insbesondere die Romantiker entdeckten diese Form wieder und setzten sie gegen den Rationalismus ihrer Zeit. Oft handeln phantastische Geschichten von außergewöhnlichen (seelischen) Grenzerfahrungen.
Im wissenschaftlichen Kontext wurde die Definition vor allem von Tszvetan Todorov geprägt und durch eine Unschlüssigkeit des Lesers hinsichtlich des (scheinbar) Übernatürlichen definiert. Dennoch wird der Begriff Phantastik oder Fantastik sehr unterschiedlich gebraucht, im Minimalen wie bei Todorov und im Maximalen alles einschließend, das irgendwie wunderbar, übernatürlich oder unglaublich ist.
ASIDE: Phantastik ist in gewisser Weise eine Verlegenheitskategorie. Wo Phantastik endet und Fantasy anfängt, ist eine Grauzone und schwer mit präzisen Maßstäben zu erfassen. Phantastik fängt somit auch Titel auf, die nicht so recht in eine andere Kategorie passen.
Die Definition Todorovs beschreibt die Phantastik im engen Sinne. Nach dieser minimalistischen Definition ist die Phantastik ein präzises Untergenre der größeren Phantastik, aber auch das ist nicht unproblematisch. Todorov unterscheidet zwischen dem Phantastischen, über das immer Zweifel besteht, und dem Wunderbaren (der Fantasy), in dem Übernatürliches zweifelsohne vorliegt.
Ein beliebtes Beispiel ist E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann: Bis zuletzt weiß der Leser nicht, ob Coppola und Coppelius ein und derselbe sind oder nicht. Verschiedene Wahrnehmungen mischen sich - und könnten doch ganz real erklärt werden. Es gibt keine klare Auflösung; die Geschichte bleibt interpretierbar.
In der Literaturwissenschaft unterscheidet man drei Spielarten dieser Phantastik:
Diese zweite Welt ist dabei keine Fantasy-Welt, sondern eher poetisch, märchenhaft und metaphernreich. Sie hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sie von unserer unterscheidet, ist dabei aber nicht oder selten ausgestaltet. Gut und Böse sind oft klar getrennt.
In der maximalistischen Definition beinhaltet die Phantastik alle Texte, in denen Naturgesetzte verletzt werden. Hierbei kann man zwischen historischer und ahistorischer Phantastik unterscheiden: Aus der Sicht der Figuren ist etwas vielleicht gänzlich unmöglich; wir heute wissen hingegen, dass es durchaus nicht mit Hexerei zugeht. So macht sich der Erzähler in Ein Yankee am Hofe des König Artus das Wissen seiner eigenen Zeit zunutze, gilt für Ritter und Co jedoch als mächtiger Magier.
Auf diese Art ist die Phantastik ein Übergenre, das Märchen, Legenden, Magischen Realismus und auch die Science-Fiction beinhaltet. Gleichfalls ist es eine Sammelbezeichnung für Erzählungen, die zwar wunderbare Elemente enthalten, aber dennoch nicht wie Fantasy wirken.
Die Kunstmärchen Tiecks, z. B. Der blonde Eckbert oder Die Elixiere des Teufels sind noch zu nah beim Realen um sie wirklich als Fantasy zu bezeichnen und auch Otfried Preußlers Kleine Hexe ist nicht genug Fantasy für Fantasy. Alice im Wunderland passt ebenso wenig hinein wie die Thursday Next-Reihe, die auch Science-Fiction-Elemente inkorporiert. In all diesen Beispielen ist das Wunderbare zweifellos real - aber es fehlen Elemente, die für einen Fantasy-Roman typisch sind.
Fantasy, wie wir sie heute kennen, entstand aus dem Schwung der Phantastik der Romaniker. Gleiches gilt für die Science-Fiction, die man als "wissenschaftliche Phantastik" bezeichnen könnte. Im Gegensatz zur Phantastik bezieht sich die Fantasy jedoch stärker auf Mythos und Epos und entwickelte aus diesen typische Elemente wie auserwählte Helden, mächtige Artefakte, Monster, Götter, Magie etc.
Gleichzeitig unterscheiden sich Phantastik und Fantasy in der Menge und Ausprägung der phantastischen Elemente. Ein Phantastik-Roman kann durchaus einen Drachen beinhalten oder einen Magier; kaum aber eine ganze Armee von Orks oder Schwertkampf und Magie an jeder Ecke. Phantastik ist daher auch eine Art Fallback-Kategorie: Wenn eine andere Kategorie passt, ist diese meist besser; ansonsten bleibt "ein phantastischer Roman". Die Grauzonen sind groß. Betrachtet man zum Beispiel die Harry Potter-Romane, so stellt man fest, dass diese zwischen Phantastik und Fantasy sind und zu unterschiedlichen Zeitpunkten stärker in diese oder jene Richtung tendieren.
Diese Website benutzt Phantastik als Sammelbegriff für alles, was sich nicht besser zuordnen lässt. Im Vergleich zu Fantasy ist die normale Realität prominenter. Dies kann Geschichten mit Vampiren oder Geistern einschließen oder modernen Magiern. Ebenso könnten diese aber auch Fantasy sein.
Im Zweifelfall entschied hier das Gefühl des Rezensenten - vielleicht unbefriedigend, aber in letzter Konsequenz Besseres oder Eindeutigeres haben auch Generationen von Literaturwissenschaftlern nicht erreicht. Denn beachten könnte man auch: Als was verkauft ein Verlag ein bestimmtes Buch?
Diese Genre-Info wurde veröffentlicht am und zuletzt geändert am .