Chroniken des Wahns - Blutwerk
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Kurz & Knapp
- Intelligente Fantasy
- Keine Standard-Fantasy
In dieser Welt ist nichts beständig. Nicht die Klugen, Weisen regieren die Welt, sondern den Geisteskranken gehört die Macht. Jene Wahnwirker erschaffen die Welt um sich herum, denn ihre Wahnvorstellungen werden Realität. Und doch sind sie krank, heilungslos verloren. Hohepriester Ethenor will dies nicht hinnehmen. Um sich selbst zu retten, will er einen neuen Gott erschaffen, einen reinen Gott, der ihn erlösen kann. Immerhin schafft Glaube Realität. Doch ein neuer Gott ruft andere auf den Plan, wie Robyn, Argos und Deckard, die es für eine exzellente Idee halten, den jungen Gott zu entführen.
Das Buch erhält 9 von 10 Punkten.
Einen Gott erschaffen: In einer Welt, in der Wahnvorstellungen Realität werden, scheint dies gar nicht so weit hergeholt. Andererseits ist dies vielleicht der ultimative Ausdruck des Wahnsinns. Michael R. Fletchers Roman zieht seinen Hauptreiz aus dieser zentralen Idee und dem düsteren Setting, dem man ein gutes Ende früh abspricht: In einer Welt des Wahnsinns scheint dies unmöglich.
Responsive Realität
Götter gehören zum Grundprogramm der Fantasy, und sind dort beweisbar real. Sie gehören dazu. Aber woher bekommen Götter ihre Macht?
Wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, dann gibt es manchmal ein Ritual zur Gottwerdung - nicht selten durch das Töten eines Gottes und Einnehmen seines Platzes. Eine andere Antwort ist: Durch den Glauben. Hat ein Gott keine Gläubigen, so wird er vergessen und stirbt.
Umgekehrt müsste also gelten: Ausreichend Glaube kann einen Gott erschaffen. In der Welt der Chroniken des Wahns, in der Wahnvorstellungen Realität werden, ist es daher vielleicht gar nicht so verrückt, einen Gott erschaffen zu wollen. Oder vielleicht ist gerade das der ultimative Ausdruck des Wahnsinns?
Leider schaffen nicht alle Gedanken die Realität, sondern nur die der Wahnwirker. In unserer Welt würde man sie Geisteskranke nennen und behandeln. Sie glauben so stark an ihre Wahnvorstellung, dass diese echt werden: Wer sich von einem Tiergeister besessen glaubt, kann wirklich zu diesem Tier werden. Das Spiegelbild von Eisotrophoben erwacht tatsächlich zu eigenem Leben. Kleptomanen entwickeln unglaubliches Diebstahlsgeschick. Genug Glaube kann aus einem Kaff eine blühende Stadt machen - und Karten haben in einer derartigen Welt, die sich dem Glauben der Menschen anpasst, nur begrenzten Nutzen. Mehr als eine neue Geschichte macht diese interessante Idee einer Responsiven Realität den Hauptreiz des Romans aus.
Übersetzung: Aus dem Deutschen in das Deutsche
Vorweg noch ein paar Worte zur Sprache: Der Autor beginnt mit einer Entschuldigung an alle Leser, die Deutsch verstehen. Denn im englischsprachigen Original tragen die Wahnwirker deutsche Bezeichnungen. Für die Übersetzung hat man diese angepasst, findet die Originale aber noch im Anhang. Ich finde diese Anpassung absolut gelungen.
Aber auch abseits von diesen "Übersetzungen" kann man mit der Sprache einigen Spaß haben: Beinahe alles leitet sich aus irgendeiner Sprache ab und hat einen sprechenden Namen, wenn auch nicht immer offensichtlich. Das kommt natürlich vor allem sprachgewandten Lesern entgegen, die mehr als pure Action und schnelle Handlung suchen - und das deckt sich mit diesem Buch insgesamt. Mein Tipp: aktiv mitdenken. Oft steckt genau das dahinter, was draufsteht.
Keine Helden: Protagonisten und Wahnsinnige
Klassische Fantasy hat einen Helden oder eine Heldengruppe, die eine Aufgabe erfüllt. Die sucht man hier vergebens. Hohepriester Ethenor will zum eigenen Gewinn einen Gott erschaffen. Die Protagonistengruppe um Rafferin Robyn, Blender Argos und Deckard haben auch ein eigennütziges Ziel. Deckard scheint dabei der geistig Gesunde der Gruppe zu sein - aber ausgerechnet er schlägt den Wahnsinnsplan vor, den jungen Gott Ethenors zu entführen und ein Lösegeld zu erpressen. Na dann viel Erfolg - das wird ein Gott sicher zu schätzen wissen ...
Manchem mag aufstoßen, dass es keine Gute Partei gibt. Hey: Auch ein Messias-Komplex fällt unter Wahnsinn. Wann ist das je gut ausgegangen? Allerdings bringt es der Klappentext exzellent auf den Punkt und sollte ausreichend Warnung sein:
Die Figuren sind auf sich fokussiert. Die Welt ist dreckig und brutal, gnadenlos - ein Konglomerat aus den Albträumen der Wahnsinnigen. Die Allgegenwärtigkeit des Wahnsinns und der Brutalität führt allerdings auch dazu, dass diese schnell abstumpfen. Die Altersempfehlung ab 16 Jahren des Verlags kann man als durchaus gerechtfertigt sehen.
Gar nicht so unrealistisch
Blutwerk ist keine Standard-Fantasy. Es zählt eher zu den Titeln die das Programm ausfüllen und neben den "großen" Titeln herlaufen, nicht explizit "alle Leser" ansprachen. Meist ist hier eine kleinere Zielgruppe dankbar - so wie ich, der es schätzt, über intelligente Fantasy nachzudenken.
Nehmen wir einmal Deckard. Ist er vielleicht doch ein Wahnwirker? Von Hypochondern hat man ja durchaus schon gehört - und warum sollte jede Wahnvorstellung Vorteile bringen? Und was den Realismus angeht: So unrealistisch ist einiges gar nicht. Positives Denken wirkt: Glaubt man nicht an den eigenen Sieg, ist die Niederlage selbstgebrachte Bestätigung. Wir kennen den Placebo-Effekt. Und wenn eine Person von allen als Lügner und Betrüger bezeichnet wird, behandeln ihn alle so - und womöglich wird er tatsächlich zu einem.
Wo Magie existiert ist die Realwerdung von Wahnvorstellungen auch nur eine Übersteigerung.
Konsequenzen des Wahnsinns: Bisweilen zirkulär
Bei Geisteskranken sind Zweifel angebracht. Und diese Figuren sind geisteskrank. Um geradezu groteske Lücken in ihren "Plänen" zu finden, braucht es nicht viel Anstrengung. Auch die Erschaffung eines Gottes ist letztlich eine Verzweiflungstat - und nicht nur Ethenor ist in seinem Wahn gefangen:
Einige Charaktere drehen sich im Kreis. Immer das Gleiche. Dann das selbe. Dann das Gleiche noch einmal neu mit den Wünschen und Begierden, die doch nicht gestillt wurden, dahinter Machtgier ... und Angst. Das passt und macht den Wahnsinn erst deutlich. Dies sind keine rationalen Figuren; sie können sich nicht selbst befreien oder ihr Ziel erreichen. Allerdings hat dies bisweilen zur Folge, dass die Handlung nicht richtig weitergeht.
Ich mag das keine Schwäche nennen, denn letztlich wird der Wahnsinn erst durch diese zirkulären Gedanken des Irrsinns deutlich: Ohne die permanente Selbstbemitleidung eines Hassebrands, wäre sie nichts anders als ein mächtiger Feuermagier. Und die Magie, die Macht, der Wahn haben ihre eigene Logik - im Fehlen selbiger. Diese Figuren SIND geisteskrank; mit der Logik eines gesunden Verstands hat das nichts zu tun.
Allerdings will ich nicht verleugnen, dass gerade der Auftakt des Romans eher langsam ist und es im Sinne der Handlung manchmal etwas schneller hätte gehen dürfen: Langatmig lag mir manchmal auf der Zunge. Schwer zu sagen jedoch, ob das insgesamt eine Verbesserung wäre.
Kein Happy End
Ein Happy End ist für eine Geschichte, die derart düster beginnt, nicht vorstellbar. Tatsächlich nahm mich die "widerwärtige" Geschichte mit ihren "abstoßenden" Protagonisten gefangen - mit dieser Beschreibung zitiert Michael R. Fletcher seine Agentin im Nachwort. Ein glückliches Ende brauche ich nicht.
Auch auf eine neue Geschichte kann ich verzichten. Denn die eigentliche Handlung ist recht platt: Kindesentführung, Lösegeld, Jagd auf die Täter. Das war schon tausendfach da. Aber eben nicht mit real werdenden Wahnvorstellungen. Diese lenken den Fokus weg zu der Frage, ob die Entführung gelingt (und vielleicht eine gute Sache war), hin zu der Frage, ob irgendwer (irgendwer!) auch nur halbwegs unbeschadet aus dieser Katastrophe herauskommt.
Fazit
Die Chroniken des Wahns - Blutwerk ist weder seichte Unterhaltung noch Standard-Fantasy. Vielmehr zeichnet der Autor eine düstere Welt des Wahns, die zum Nachdenken anregt. Leider dürfte es genau dies sein, was ihn von Top-Titel-Listen fernhält - und ein Sequel verhindern könnte: The Mirror's Truth wurde vom (englischsprachigen) Verlag abgelehnt; die Verkaufszahlen waren enttäuschend - trotz eines 4,3-Schnitts über 62 Bewertungen auf amazon.com zum Zeitpunkt als ich dies schreibe. (27.05.2017). Ja: Blutwerk wird nicht jeden ansprechen. Zugreifen sollte aber jeder, der offen ist für "andere", gritty, düstere Fantasy - und der sich wie ich gern die Frage stellt, wie viel von Fantasy nicht doch auf gewisse Art Realität ist.
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Nico hat besonderes Interesse an Fantasy sowie ihrem Bezug zur Realität und anderen Texten (Intertextualität). Nico studierte Literatur in Deutschland und England. Wenn er nicht liest, läuft er oder ist im Tischtennis unterwegs.
Diese Rezension wurde zuletzt geändert am und ursprünglich veröffentlicht am .
Leseprobe
Es gibt eine oder mehrere Leseprobe(n) zu diesem Buch:Chroniken des Wahns WIKI des Autors (Englisch) (extern)
Chroniken des Wahns - Leseprobe (extern)
Zitat(e) aus dem Buch
- Vorstellung bedeutet Wirklichkeit, das verstanden Wahnwirker nur allzu gut.
- "Du bist geistig so gesund ... dass du der verrückteste Mensch bist, dem ich je begegnet bin."
Diese Rezension bewerteten 4 positiv und 0 negativ. (8327 Leser bisher.)
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Lesermeinungen:
Name: Andrè Pietroschek (Website) | Bewertung: (9) | Datum: 06.09.2017 09:59:23 |
Erster Eindruck: "Chroniken des Wahns - Die Merkel Tagebücher". Doch seit den Maraudern in "Mage the Ascension" & KULT, dem Splatterpunkrollenspiel ist das eigentlich nicht neu. Buch Null Punkte, Rezension 8 oder 9 ? Ja... | ||