Buch-Cover, Kirill Eskov: Der Letzte Ringträger

Der Letzte Ringträger

Originaltitel: The Last Ringbearer [RUS]
Übersetzer: Yisroel Markov
Genre: Fantasy
Seiten: 458
Erschienen: 01/1999 (Original: 1999)
ISBN: N/A
Preis: 0,00 Euro (Digitaler Text / eBook)
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Mordor: das Schwarze Land. Wüste aus Stein und Asche. Bevölkert von tausenden Orks.

Bevölkert von tausenden Orks? Wie konnten diese ernährt werden? Die Geschichte des "Herrn der Ringe" ist bekannt - und falsch. Erstunken und erlogen, denn sie ist die Propaganda der Sieger. "Der Letzte Ringträger" erzählt die wahre Geschichte: eine Geschichte von Agenten, Propaganda, Spionage und feigen Morden. Eine Geschichte von Genozid und persönlichen Zielen. Eine Geschichte vom Kampf der alten Mächte gegen Wissenschaft und Fortschritt. Eine Geschichte, die weit weniger edel und viel dreckiger ist als der Kriegshetzer Gandalf und seine Kumpanen es den Leser glauben lassen wollen.

Das Buch erhält 9 von 10 Punkten.

Kirill Eskov verfasste mit "Der Letzte Ringträger" einen Parallelroman zu Tolkiens Herrn der Ringe. Die Geschichte, die Eskov erzählt ist realistischer, düsterer, von mehr Politik und konkreten Zielen durchwoben. "Mittelerde mit den Augen Mordors", titelte Salon.com. Ohne den Herrn der Ringe ist dieser Roman witzlos - ein typischer Parallelroman eben, der vom Kontrast zum Original lebt. Als solcher brilliert er und amüsiert zudem mit weiteren intertextuellen Anspielungen, selbst wenn er vermutlich nie kommerziell herausgegeben wird.

"Fanfiction" und das Legale

Gewissermaßen ist "The Last Ringbearer" Fanfiction. Eine kommerzielle Auflage, also von einem Verlag und im regulären Buchhandel, gibt es nicht. Denn der legale Status ist einigermaßen brisant. Geschrieben hat diesen Roman zweifellos Kirill Eskov. Ohne Tolkiens Herrn der Ringe würde er aber nicht existieren. Immer wieder nimmt Eskov direkt Bezug auf Tolkiens Werk. Es ist ein Parallelroman; eine alternative Erzählung der Ereignisse.

Es gab mehrere Versuche, den Roman auf Englisch zu veröffentlichen. Von Verlagen wurde dieses Projekt nie realisiert. Der Grund waren mögliche Rechtsstreitigkeiten mit dem Tolkien Estate, den Rechteinhabern Tolkiens, die recht strikt gegen abgeleitete Werke vorgehen. Auf der Minus-Seite heißt dies aus gleichen Gründen, dass es keine deutsche Übersetzung gibt. Auf der Plus-Seite (für Leser) führte dies aber auch dazu, dass Kirill Eskov seinen Roman letztlich kostenlos, also unkommerziell, verfügbar machte. (Streng genommen gibt es die Meinung, dass dies immer noch eine Verletzung des Copyright ist.) Fans führten mehrere Übersetzungen durch - bislang nicht ins Deutsche, sehr wohl aber ins Englische. Die zweite englische Edition gibt es hier.

Auch wenn dies keine kommerziell-professionellen Übersetzungen sind, so steckt viel Mühe und Qualität in der Arbeit. Wer möchte, kann hier auch den Beleg sehen, dass "Fanfiction" gut sein kann. Denn letztlich entstand "Der Letzte Ringträger" aus dem Gedanken und dem Ansatz heraus, die geografischen Probleme in Tolkiens Welt zu beheben. Eines führte Kirill Eskov zum nächsten und schließlich gab es eine ganze Breite an "Problemen", die bei genauer Untersuchung nur wenig Logik oder Realismus darboten. (Selbstverständlich: Kritiker können immer einwenden: Man darf nicht zu sehr auf Fantasy und Science-Fiction schauen - sonst findet man etwas, das nicht funktioniert.) Gesagt werden sollte aber auch: Kirill Eskov ist kein Schriftsteller, sondern Wissenschaftler. Stellenweise kann man den Stil bemängeln; das "Storytelling" könnte verbessert werden. Dennoch zieht die Alternativgeschichte an sich genug in ihren Bann, um dem Roman insgesamt nicht sehr zu schaden.

Vae Victis: Alternative "Historie" des Ringkriegs

Vae Vicits: Wehe dem Verlierer. Oder anders ausgedrückt: Die Sieger schreiben die Geschichte. Die Verlierer hört man nicht. Ihnen wird die Schuld gegeben; sie können sich nicht wehren, sind am Boden. Geschichtsschreibung ist, allem was wir in der Schule lernen zum Trotz, nicht objektiv. Allein die Beurteilung einer Situation kann sogar bei gleichen objektiven Fakten unterschiedlich ausfallen. Ereignisse sind dynamischer und dadurch schwieriger. Zeitliche Distanz verkompliziert die Beurteilung einer Situation (mit mehreren Perspektiven und Unsicherheit über das tatsächlich Wissen direkter Beteiligter) weiter. Eine andere Moral, andere Vorstellungen von dem, was wichtig ist, andere Methoden der Aufzeichnung und natürlich die Interpretation/Darstellung des Schreibers machen weiter klar, dass so etwas wie Objektivität in der Geschichtsschreibung eine Idealvorstellung ist.

Tolkien schrieb kein Geschichtsbuch. Tolkien schrieb Fantasy. Und Fantasy hat, ungleich Historie, keinen Wahrheitsanspruch - auch dann nicht, wenn man die Historie der Fantasy-Welt mit erschafft: Sie bleibt imaginär.

Hier jedoch setzt Kirill Eskov an. Er tut so, als wäre der Herr der Ringe die autoritative (also offizielle) Geschichtsschreibung des Ringkriegs, herausgebracht und propagiert durch die Sieger. Vornehmlich also durch Aragorn, Gandalf und die Elben. Der Siegerpropaganda gegenüber stellt er eine "realistische" Beobachtung des "wahren" Ringkrieges. Gandalf wird zum Kriegshetzer, dem Mordor ein Dorn im Auge ist. Saruman wird zur ungehörten Stimme der Vernunft. Arwen spielt eine weit sinisterere Rolle und Aragorn wird zum Marionettenkönig. Die Änderungen betreffen alle Figuren aus der bekannten Geschichte - und neue, die Tolkien nie erwähnte, kommen hinzu. Die freien Völker sind hier nicht die vollkommen gerechtfertigten Guten. Der "wahre" Krieg ist dreckiger und realistischer als Tolkiens Werk. Ruhm in Schlachten? Nein, in Schlachten gibt es nur den Tod und selbst Kriegervölker finden manche Ernüchterung.

Beobachtung der Beobachter in einem dreckigen Krieg

Oft beobachtet Eskovs Erzähler andere Beobachter des Krieges. Er schlüpft in sie und legt auch ihre Gedanken dar - zum Krieg und zu ihrer eigenen Situation. Kurze Perspektivwechsel sind daher häufig, auch zu Nebencharakteren dieser Erzählung, wie Faramir und Eowyn.

Der "Wahrheit" geschuldet ist ein an "Fakten" orientierter Stil. Nie ist dieser jedoch nüchtern im Stile eines Geschichtsbuchs. Kirill Eskovs Erzähler vermeidet autoritative Aussagen: Stets sind es die Sichtweisen einzelner Figuren, die vermittelt werden, im Kontrast zu Tolkiens Erzähler, der autoritativ alles beobachtet.

Schon zuvor klang an: Dieses Mittelerde ist dreckig, einen edlen oder gerechtfertigten Krieg gibt es nicht. Eigene, persönliche Ziele sind Motivation. Und natürlich der Klassiker: Macht. Und für die etablierten Mächte ist das technologisch fortschrittliche Mordor eine Bedrohung.

Die Wahrheit über Mordor und MITTELerde

Halt: technologisch fortschrittliches Mordor? Diese Steinwüste voller Monster? Ja, Mordor ist eine Wüste. Und dennoch gibt es unzählige "Orks". Wie genau haben sich diese Orks ernährt? Tolkien sagt dazu nichts. Und auch dies war einer der Punkte, über den Kirill Eskov stolperte. Wie ist dies logisch zu erklären? Zunächst einmal ist mit Mordor die Welt nicht zu Ende. Auch wenn die verbreitetsten Karten Mordor im äußersten Südosten zeigen: Selbst Tolkien zeichnete mehrere fernöstliche Länder ein. Und gestaltete sie kaum aus. Wem sagt "Umbar" etwas? Nicht vielen, und im Herrn der Ringe stellen sie im Grunde nur die durch Aragorn gekaperten Schiffe.

Aber es heißt ja nicht umsonst MITTELerde. Durch die hohe Fruchtbarkeit dieser Länder sichert Kirill Eskov die Nahrungsversorgung Mordors. Wobei Mordor auch nicht immer Wüste war, sondern eine neue Technologie einmal ziemlich schief lief.

Hat diese Geschichte denn überhaupt noch etwas mit dem Herrn der Ringe zu tun? Ja. Die bekannte Geschichte kommt immer wieder vor, ist jedoch markant anders. "Ork" ist eigentlich nur das Schimpfwort für die "Orocuen". Ähnlich den Trollen werden sie zu Monstern stilisiert - um den Krieg zu rechtfertigen, sind aber im Grunde ganz normale Menschen. Die Nazgûl sind keine Geister, sondern Gelehrte. Frodo? Ring der Macht? Bitte was? Nette Geschichte... und eine Verbindung zum "echten" Geschehen gibt es auch, aber vom Auenland hat doch niemand etwas gehört... Beispiele ließen sich lang aufzählen, aber würden die Lektüre dann noch vermiesen.

Wissenschaftliche Betrachtungen und Philosophie

Krieg, heroische Kämpfe und Schlachten überhaupt darf man hingegen nicht erwarten. Was ist das auch schon, wenn sich einige Tausend gegenseitig den Schädel einschlagen? Der "Held" Haladdin ist ein Arzt, kein Kämpfer. Statt Schlachten gibt es viele Gedanken der Figuren. Das vernichtete Wissen Mordors schimmert durch. Seine Wissenschaft; seine Kultur; seine Philosophie. Hier kommt auch noch einmal der Osten ins Spiel: Die dortigen Religionen sind zwar nicht ausgestaltet, lehnen sich aber an irdische Religionen an und können somit aus Allgemeinwissen ergänzt werden.

Die Queste, die Haladdin auf sich nimmt, ähnelt der Frodos. Eine offene Schlacht macht auch hier keinen Sinn. Und auch sie ist recht verzweifelt, die letzte Chance. Ungleich Frodo, der ins Blinde hineinläuft, geht Haladdin jedoch mit Verstand vor - abgesehen von seiner Tendenz, bisweilen auch vollkommen unvorhersehbares zu tun. Auch seine Aufgabe ist es, ein "Artefakt des Schicksals" zu vernichten und auch hier spielt der Schicksalsberg eine Rolle. Im Gegensatz zu Frodo nutzt Haladdin aber neue Technologie und kontrastiert dabei besonders deutlich mit den eher nostalgischen Halblingen. Zudem weiß Haladdin auch um die Bedeutung von Informationen.

Agentenroman

Und für diese Informationen setzt Haladdin auch einen Agenten ein. Dieses Wort wie auch "Arzt" zuvor ist bewusst gewählt, der modernere Klang gegenüber Medicus/Heiler oder auch Spitzel intendiert. Kirill Eskovs Mordor war moderner. Und so ist der Mittelteil seines Romans tatsächlich auch ein Agentenroman - nach einem "postapokalyptischen" Beginn in Mordor und vor einem verzweifelten Befreiungsschlag am Ende. Lug, Trug und Täuschung, Diplomatie und Irreführung des Feindes verlassen den Roman aber auch hier nicht. Dies ist das Parkett, auf dem Krieg geführt wird - Schlachten und Gemetzel (häufiger!) sind nur die Figuren auf dem Schachbrett.

Besonders stark tritt der Agenten-Aspekt in Umbar hervor. Tolkien schmückte dieses Reich kaum aus. Krill Eskov macht es zur Hochburg der Geheimdienste. Der Protagonist dieses Teils schleicht herum, sucht Verbindungsmänner, mordet, schmuggelt und spielt gegeneinander aus. Alles für das große Ziel. Dennoch bleibt der Held tragisch. Er ist kein 007, kein James Bond, der gut lebt und am Ende gerechtfertigt ist. Er verrät Freunde, Verbündete - die Menschen, die ihm ohne seine Mission am nächsten Stünden. Auch Persönliches leidet. Und am Ende nach allen Entbehrungen oder harschen Entscheidungen steht keineswegs die Belohnung oder ein Happy End. Manchmal ist es Glück oder Zufall, das alles entscheidet. Auch hier ist der Roman realistisch und dies gilt für alle Figuren: Ein strahlendes Ende ohne Schatten bekommt niemand. Nicht Haladdin. Nicht Arwen. Nicht Aragorn - und immerhin verfasste seine Partei ja den Herrn der Ringe, den wir kennen.

"Die Welt ist Text" - Intertextualität

Durchgehend unterstützt wird der Roman durch eine sanfte Intertextualität. Auf den fortlaufenden Bezug zum Herrn der Ringe braucht nicht weiter eingegangen werden. Aber auch an anderen Stellen finden sich Anspielungen. Im Allgemeinen gibt es den geradezu klassischen Gegensatz von Elben, die Magie und Mystik betonen, und Mordor, das Fortschritt und Wissenschaft betont - wie auch Saruman. Konkreter finden sich Anspielungen auf Umberto Eco, Churchill, Stalin, Newton, die Nazis und mehr. "Wahrlich, die Welt ist Text", philosophiert Haladdin und überlegt, wie es wäre, seine Gedanken einst als Geschichte zu lesen. Und allein schon sein Name erinnert doch an jemanden...? Für jene, die die Anspielungen überlesen, bietet der Anhang einen Appendix mit Zitatquellen, historischen und kulturellen Referenzen und Bemerkungen des Übersetzers. Denn auch die kulturellen Anspielungen bedienen sich in aller Welt und sind zahlreich: Viel Bekanntes findet sich in Eskovs Mittelerde, nicht nur aus dem Herrn der Ringe.

Den Abschluss bildet ein Essay von Kirill Eskov über die Gründe, diesen Roman zu verfassen.

"Der Letzte Ringträger" ist kein Ersatz für den Herrn der Ringe und kein Sequel. Nicht erwarten darf man den gleichen Stil, den Tolkien benutzte oder auch nur eine Geschichte, die sich in sein Mittelerde einfügt. Eskovs Erzählung ist eine Alternative, ein Kontrast. Und es ist brillant, nicht nur für Literaturwissenschaftler, sondern für alle, die Spaß am Spiel mit Fiktion haben und am kritischen Fragen von Geschichte. Denn History... History is written by the victors. Wer kein Englisch versteht, muss leider auf eine deutsche Übersetzung hoffen. Alle anderen: Definitiv auf die Leseliste setzen!

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Avatar von nico Rezension von: (Grimoires.de)
Nico hat besonderes Interesse an Fantasy sowie ihrem Bezug zur Realität und anderen Texten (Intertextualität). Nico studierte Literatur in Deutschland und England. Wenn er nicht liest, läuft er oder ist im Tischtennis unterwegs.

Diese Rezension wurde zuletzt geändert am und ursprünglich veröffentlicht am .


Leseprobe

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Der letzte Ringträger (extern)

Zitat(e) aus dem Buch

  • "Siehst du, solltest du meinen Vorschlag akzeptieren, so wirst du es mit einem Gegner aufnehmen, der unermesslich viel mächtiger ist als du. Dennoch: Deine Handlungen sind regelmäßig komplett irrational, also wird er es höllisch schwer haben, vorauszusagen, was du tun wirst. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dies unsere einzige Hoffnung ist." ("You see, should you decide to accept my proposition, you will thereby take on an opponent that is immeasurably more powerful than you are. However, your actions are frequently totally irrational, so he'll have a hell of a time predicting what you'll do. It is quite possible that this is our only hope.")
  • Oder vielleicht ist Gott tatsächlich Eins und es ist nur so, dass ER unterschiedliche Geschichten und Codenamen für verschiedene Länder besitzt? (Or perhaps God is, indeed, one, and it's just that He has different cover stories and code names for different countries?)
  • Also: Er sucht die nettesten und vermutlich sogar ähnlich denkenden Menschen in Umbar. Er sucht sie, um sie zu töten. Was war es, das Haladdin immer sagte? "Rechtfertigen die Ziele die Mittel? Allgemein ausgesprochen fehlt dem Problem eine Lösung." (So: he is looking for the most likeable and maybe even kindred-spirited people in Umbar. He is looking for them in order to kill them. What was that Haladdin used to say? "Do the ends justify the means? Stated generally, the problem lacks a solution.")
  • Mhm, die Welt ist Text, dachte Haladdin. Wäre es nicht nett, irgendwann den Absatz zu lesen, der beschreibt, wie ich mich eines Tages zwei professionellen Mördern anschließe (denn was sind sie anderes?) um neun Untermenschen zu jagen (wie, warum unterscheiden sie sich von allen anderen?) und just vor der Schlacht eine tief greifende Diskussion über Poesie betreibe[...]? (Yeah, the World is Text, thought Haladdin. Wouldn't it be nice to someday read the paragraph describing how one day I will join two likeable professional killers (what else are they?) to hunt nine subhumans (why, how are those different from all the others?) and will carry on a profound discussion of poetry right before the battle[...]?)
  • "Ich bin zu dumm, zu verstehen, wieso es edel ist, jemandem das Hirn mit einem Schwert aus dem Schädel zu schlagen; aber abscheulich, das gleiche mit einem Armbrustbolzen zu tun." ("I'm too dumb to understand why it's noble to knock someone's brains out with a sword but vile to do it with a crossbow bolt.")

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